AUSWÄRTSSPIEL!!!!
Schon klar, das sieht auf den ersten Blick
verdammt weit aus, auf der Deutschlandkarte. Du hier unten, das Ziel ganz oben
rechts. Denk jetzt bitte nicht an die Benzinpreise, auch nicht daran, dass du
morgen früh um halb acht wieder auf der Arbeit sein musst. Denk daran, dass du
nur einmal lebst, dass du in dieser Saison noch kein einziges Pflichtspiel
verpasst hast, dass die Mannschaft deine Unterstützung dringend braucht.
Zumindest ein kleines bisschen. Und dann setzt du dich in dein Auto und fährst
los.
Das hätten wir schon mal geschafft. Nun holst du deine Mitfahrer ab, die du
vorher sorgfältig aussuchst. Denn auch wenn sie dir empfohlen werden: Keine
Freigänger, die du erst an der Pforte der Jugendstrafanstalt abholen musst. Auch
keine schnaufenden Gymnasiasten, die nach zehn Minuten und einer Dose Karlskrone
vehement die erste Notdurftpause einfordern und nach weiteren zehn Minuten die
zweite. Niemals nimmst du ängstliche Studenten mit, die bei Tempo 85 in der
Baustelleneinfahrt mit zitternder Stimme und perlendem Angstschweiß auf der
Stirn anmerken: „Hier ist aber nur Tempo 60!“ Und bloß keine Sparfüchse, die
beim obligatorischen Ersthalt an der Tankstelle zwar siebzehn Packungen
Erdnussflips ins Auto schleppen, aber bei der Aufteilung der Tankrechnung
vergeblich ihre Geldbörse suchen. Stattdessen solltest du verlässliche alte
Haudegen als Mitfahrer gewinnen. Rotzer, Patient und Schluckspecht zum Beispiel.
Du kennst sie flüchtig vom gemeinsam 1987 gegründeten Fanklub „Blau-weiße Pauer“
(wegen Rechtschreibfehler auf der Fanklubfahne nach sieben Tagen aufgelöst), als
Mitfahrer sind sie unersetzlich. Denn Patient kann Autokarten lesen, was der
Besatzung nach dem passierten Autobahnkreuz Leverkusen den gefürchteten Satz
erspart: „Ich glaube, lasst mich nicht lügen, aber wir hätten vorhin rechts
gemusst!“ Rotzer wiederum vertreibt aufkommende Langeweile durch ebenso launige
wie leidlich authentische Anekdoten („Dreihundert Schalker rennen auf uns zu,
ausschließlich Althauer, richtige Monster, ich natürlich erste Reihe, jetzt hieß
es: Mann oder Maus…“). Und Schluckspecht, tja, Schluckspecht sitzt einfach nur
hinten drin.
Nun ist es höchste Zeit, den Wagen ordnungsgemäß zu dekorieren. Soll ja
schließlich jeder sehen, dass ihr nicht auf dem Weg zum Lehrstuhlausflug der
Philosophie-Fakultät seid. Zwei eindeutige Schals werden in die Seitenfenster
geklemmt, außerdem wird die Fahne auf der hinteren Ablage drapiert. Und nun wird
die Fahrt erst richtig lustig, denn selbstverständlich sind noch jede Menge
Anhänger anderer Klubs auf der Autobahn unterwegs und die drängen angesichts des
Fahrtlärms vorwiegend auf visuellen Meinungsaustausch. Seid auf alles gefasst:
von gefletschten Zähnen über grimmig gereckte Mittelfinger bis hin zu eilig
entblößten Hinterteilen, die provokant an der Scheibe entlang gedrückt werden.
Natürlich lasst ihr euch auch nicht lumpen. Jaha, schon klar, ist kindisch, aber
andererseits eine Frage der Vereinsehre. Also kurbelt auch ihr das Fenster
herunter, fletscht die Zähne wie vier extrem schlecht gelaunte Mastinos und
macht eindeutige Handbewegungen, die allesamt unschwer als Hinweis auf mehrere
räudige Hündinnen im Stammbaum der gegnerischen Autobesatzung zu verstehen sind.
Anschließend wird befriedigt das Fenster wieder hochgekrempelt und lauthals die
Vereinshymne intoniert. Eindeutiger Punktsieg, der Tag fängt gut an. Allerdings
immer genau hinschauen: Nicht dass Schluckspecht plötzlich hektisch die Scheibe
herunterdreht, den rasch frei gemachten Oberkörper hinaushängt und Obszönitäten
brüllt, wenn ein grün-weißer Streifenwagen vorbeifährt und Schluckspecht nach
einem einstündigen Zwangshalt auf dem Seitenstreifen inklusive Leibesvisitation
aller Insassen nur die Entschuldigung parat hat: „Ich dachte, es wären Bremer!“
Im Auto gehen dann so langsam die
Gesprächsthemen aus, da kann ein bisschen aufmunternde Musik nicht verkehrt
sein. Weil du mit der Familienkutsche unterwegs bist, hast du hoffentlich die
Kassetten, die deine Mutter sonst auf dem Weg zur Arbeit hört, bruchsicher im
Handschuhfach verstaut. Wenn nicht, bist du selbst schuld, dass sich Rotzer und
Patient köstlich über „Chi Gong für jeden Tag“, „Bläserquintett Rosenhain“ sowie
„Finnisch für Senioren“ amüsieren und sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen,
als sie auch noch den „Pupsi, bitte nicht so rasen-Mix“ entdecken, den dir deine
Ex-Freundin vor zwei Jahren mal zusammengestellt hat. „Nicht so rasen“, gluckst
Rotzer und dir ist klar, wie du den Rest der Fahrt genannt werden wirst. Gib
Gas, Pupsi! Allerhöchste Zeit also für die erste ernsthafte Pause. Dabei schlägt
die Raststätte immer den Rastplatz, schon weil unbefestigte Rastplätze an jedem
Wochenende Schauplatz der massenhaften Bewässerung von durchschnittlich etwa
fünfzig Fanbussen unterschiedlicher Herkunft werden und eigentlich anschließend
kubikmeterweise kontaminiertes Erdreich abgetragen werden müsste. Aber auch die
Raststätten müssen immer vor den organisierten Fanbussen angefahren werden. Denn
die Erfahrung lehrt: Wenn bereits 15 x 300 angetrunkene Anhänger johlend in den
Verkaufsraum eingefallen sind wie einst die Gallier in Kleinbonum, und
rücksichtslos die Süßwaren- Auslagen geplündert haben, reagieren die
Raststättenpächter auf weitere durchreisende Fußballfans in der Regel etwas
rauchig.
Irgendwann, nach schier endlosen Stunden auf der Autobahn, naht dann das Ziel
eurer Reise. Natürlich wartet an der einschlägigen Ausfahrt wie immer die
Polizei, die sämtliche anreisende Gästefans und ihre Autos einer umfassenden
Durchsuchung unterzieht. Müssen ja irgendwo zu finden sein, die achthundert bis
tausend Kilogramm hoch explosives Rauchpulver der Marke „Inferno 3000“, die der
anonyme, trotzdem sehr glaubwürdige User „Prahlhans1987“ im Forum der
Heimmannschaft zur Abfackelung im Gästeblock angekündigt hat. Eine gründliche
Wagenvisite muss man nicht haben, zumal Warndreieck und Ersatzrad seit Jahren
unauffindbar sind. Also leugnet ihr erst einmal, überhaupt zum Fußball zu
wollen. „Wir sind auf dem Weg zur Bundesgartenschau“, das kommt immer sehr
glaubwürdig. Vorher solltet ihr aber noch die Schals aus den Fenstern holen,
sonst lohnt sich der Aufwand mit der Gartenschau erst gar nicht, Blumenfreunde.
Nach überstandenem Zwischenstopp geht es schnurstracks zum Stadionparkplatz.
Dort ist ratsam, sich den Stellplatz zu notieren und nicht auf Rotzers lässig
dahin geworfene Bemerkung: „Merk ich mir schon“ zu vertrauen. Denn erstens merkt
Rotzer nach sieben zusätzlichen Bieren in der Gästekurve gar nichts mehr, schon
gar nicht den Stellplatz. Und ein blauer Golf ist auch nicht ganz so selten, wie
ihr anfangs dachtet. Nach dreizehn vergeblichen Versuchen der
Schlüsseleinführung und einem freundschaftlichen Dialog mit einem einheimischen
Kampfhundbesitzer („Finger weg von meinem Auto, Freundchen, sonst unterhält sich
gleich der Hund mit dir!“) habt ihr das Auto endlich gefunden, nicht allzu
schwer, es ist das einzige Auto, das noch auf dem Parkplatz steht. Es kann also
losgehen, schweigend rollt ihr vom Parkplatz, der Typ mit dem Kampfhund gibt dem
Wagen noch einen aufmunternden Tritt gegen die Stoßstange. Was soll‘s, die Laune
ist ohnehin beim Teufel, 0:3 das Endergebnis, erste Torchance für die Gäste in
der 77. Minute. So wird das nichts mit dem Klassenerhalt.
Die Rückfahrt zieht sich. Rotzer schlummert friedlich, Patient auch,
Schluckspecht dito. Du musst wachbleiben, bist schließlich der Fahrer. Der
ARD-Nachtexpress spielt den Soundtrack zur Rückfahrt, Travis fragt: „Why does it
always rain on me?“ Gute Frage. Aber nun heißt es die Augen offen zu halten,
Junge. Du bringst freundlicherweise noch Schluckspecht und Patient nach Hause.
Rotzer kann sich partout nicht an seine Adresse erinnern, du aber, und bist
darüber noch erleichterter als Rotzer selbst. Um 5.30 Uhr fällst du ins Bett.
Hat sich ja trotz allem gelohnt, die Auswährtsfahrt, denkst du, gerne wieder. Um
6.15 Uhr springt der Radiowecker an, das Lied kommt dir bekannt vor. Why does it
always rain on me?
Aus: 11Freunde