Letzter Ausweg Insolvenz   

Es ist der größte Konkurs in der Geschichte der USA, nun könnten auch andere Städte in Schwierigkeiten geraten

Zuletzt musste alles ganz schnell gehen. Am Donnerstag um 16.06 Uhr (Ortszeit) reichte der staatliche Zwangsverwalter Kevyn Orr beim US-Bundesgericht für den Osten des Bundesstaats Michigan ein 16-seitiges Dokument ein - den Antrag der Stadt Detroit auf Gläubigerschutz nach Kapitel neun des amerikanischen Konkursrechts. Der Antrag kam einen Tag früher als geplant, weil Orr befürchtete, eine Gewerkschaft oder ein Pensionsfonds könnte versuchen, den Schritt per einstweiliger Verfügung zu verhindern.
Seitdem ist die einst blühende Industriemetropole - Heimat des Ford T, des Motown-Sounds und der Waffenfabriken, die den Sieg der Alliierten über Hitler möglich machten - offiziell pleite. Mit ungedeckten Schulden von 18 Milliarden Dollar ist es die bei Weitem größte Insolvenz in der Geschichte der USA. Bei der Stadt Stockton in Kalifornien, die im vorigen Jahr Gläubigerschutz beantragte, geht es um eine Milliarde Dollar, bei San Bernardino, ebenfalls in Kalifornien, um 500 Millionen. 'Die Entscheidung kam nach 60 Jahren des Niedergangs, einer Zeit, in der die Realität oft ignoriert wurde', erklärte der republikanische Gouverneur von Michigan, Rick Snyder, der den Schritt billigen musste. Die Insolvenz sei der 'letzte Ausweg' für die Stadt. Detroit bleibt nichts anderes übrig, so die Botschaft, als sich der kalten, harten Realität zu stellen.
 

Sichtbar ist diese Realität schon seit Jahrzehnten. Wer Detroit besucht, muss nur ein paar Blocks aus dem Stadtzentrum hinausfahren, um in Viertel zu gelangen, die aussehen wie deutsche Städte nach dem Zweiten Weltkrieg: verfallene Villen mit zugenagelten Fenstern, Ruinen und weites Brachland- dort, wo die Stadtverwaltung leer stehende Häuser abreißen ließ, damit sie nicht zu Drogenhöhlen wurden. All dies ist Ergebnis eines beispiellosen Bevölkerungsrückgangs. Zu seiner Blütezeit 1950 hatte Detroit zwei Millionen Einwohner, heute sind es nur noch 700000.
In vielen Berichten wird der Niedergang Detroits immer wieder mit dem Niedergang der amerikanischen Autoindustrie nach dem Auftreten der japanischen Konkurrenz in den Achtzigerjahren in Verbindung gebracht. Doch reichen die Wurzeln von Detroits Abstieg weit tiefer. Das Auto brachte Wohlstand und Mobilität, die weiße Mittelschicht verließ Detroit und erfüllte sich den Traum vom Eigenheim in den Vorstädten, die Autokonzerne folgten ihren Arbeitnehmern und ließen neue Autos außerhalb Detroits bauen. Heute gibt es nur noch eine einzige Autofabrik innerhalb der Stadtgrenzen. Zurück in Detroit blieben die Armen und die Schwarzen. Auch andere Städte haben eine solche Entwicklung erlebt.

Viele unter ihnen, etwa Chicago, schafften die Trendwende. Detroit nicht, aus welchen Gründen auch immer. Die angesehene Detroit News schrieb: 'Der historische Konkursantrag ist das Ergebnis von Jahrzehnten des Niedergangs und des Abdriftens, einer toxischen Kombination von chronischem Missmanagement, politischer Fehlfunktion und Korruption. Sie kamen zu Jahrzehnten der Deindustrialisierung und der Bevölkerungsflucht hinzu, die die Steuerbasis der Stadt ebenso zerstörten wie ihre Fähigkeit, Dienstleistungen anzubieten.'
Heute ist Detroit die Großstadt mit der bei Weitem höchsten Kriminalitätsrate, sie gilt seit 20 Jahren als gefährlichste Stadt Amerikas. Ganze 8,7 Prozent der Gewaltverbrechen werden aufgeklärt, verglichen mit 30,5 Prozent im Landesdurchschnitt. Finanzaufseher Orr beklagte in einem Bericht die 'extrem niedrige' Effizienz und Moral der Detroiter Polizei. Die Polizisten brauchen im Durchschnitt 58 Minuten, um auf einen Notruf zu reagieren. Die Stadtverwaltung unterhält offiziell 52 Feuerwachen, wovon an jedem Tag zwölf praktisch außer Betrieb sind, weil Personal und Ausrüstung fehlen. Drei Viertel aller Kinder verlassen die öffentlichen Schulen ohne Abschluss, ein Drittel aller Detroiter lebt von Sozialhilfe. Und Kwame Kilpatrick, der frühere Bürgermeister der Stadt, sitzt wegen illegaler Geschäfte, Bestechung und mehrerer anderer Delikte im Gefängnis - Symbol dafür, in welchem Zustand das öffentliche Leben in Detroit ist.

Der Konkursantrag bedeutet für die Stadt nun nicht etwa das Ende, sondern, im Gegenteil, die Chance für einen Neubeginn, wenn sie denn die Kraft dafür hat. Wie bei einem normalen Firmenkonkurs ist es das Ziel, in einem geordneten Verfahren die Schulden der Stadt so weit zu reduzieren, dass sie wieder auf eigenen Füßen stehen kann. Etwas Vergleichbares gibt es in Deutschland nicht. In der Bundesrepublik besteht zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ein Haftungsverbund, daher kann es Städtepleiten hier nicht geben. In Amerika ist die Demokratie direkter - Städte haben mehr Autonomie, im Guten wie im Schlechten. Weil aber bisher trotzdem nur sehr wenige Städte Gläubigerschutz beantragt haben, sind die Konsequenzen der Detroiter Insolvenz derzeit größtenteils noch unklar. Verwalter Kevyn Orr will das Verfahren bis Herbst 2014 abgeschlossen haben, Experten stellen die Öffentlichkeit jedoch auf einen jahrelangen Streit vor den Gerichten ein.

Eine der wichtigsten Fragen: Was wird aus den Pensionen der Stadtangestellten? Als direkte Folge des Bevölkerungsschwunds ist die Stadtverwaltung für doppelt so viele Pensionäre wie aktive Mitarbeiter verantwortlich. Denen zahlt sie nicht nur die Rente, sondern auch den größten Teil der Gesundheitskosten. Die Sozialleistungen wurden in Zeiten zugesagt, als die Stadt noch blühte. Jetzt stellen sie eine untragbare Last für Detroits Steuerzahler dar. Ein wesentlicher Teil der 18 Milliarden Dollar ungedeckter Verbindlichkeiten, um die es jetzt geht, sind Pensionsansprüche. Es ist nicht vorstellbar, dass das Problem ohne Opfer heutiger oder künftiger Pensionäre zu lösen ist.

Oder die Frage, wie sehr die Gläubiger der Stadt zur Kasse gebeten werden. Theoretisch hätte ein Richter die Möglichkeit, deren Ansprüche bis auf ein paar Cents für den Dollar zu kürzen. Aber das könnte ungewollte Konsequenzen haben. Ein wesentlicher Teil der Schulden stammt aus sogenannten General-Obligation-Bonds, Wertpapieren, die den deutschen Kommunalobligationen entsprechen. Sie gelten bisher als extrem sichere Anlage, was für Banken und Kleinsparer gut ist, aber auch für Städte und Gemeinden überall in den USA, die sich so billig finanzieren können.
Wird das Tabu jetzt gebrochen und ein Teil der Anleiheschulden gestrichen, fürchten Bürgermeister überall, dass ihre Zinskosten drastisch steigen. Das würde die Krise der öffentlichen Finanzen in Amerika noch weiter verschärfen.
 

Die Prärie kehrt zurück

Ihren Aufstieg hat die Stadt im Mittleren Westen dem Auto zu verdanken - und fatalerweise auch den Ruin


An der Ecke Dequindre und Superior Street, keine zehn Minuten vom Zentrum Detroits entfernt, stehen noch eine Laterne und das Straßenschild. Die alten Gehwegplatten sind erkennbar, und hinten sogar noch ein Hydrant. Dabei gibt es hier seit Langem nichts mehr zu löschen. Von den vielleicht 20 Häusern, die einmal an dieser Straßenecke standen, ist keines übrig, Gras und Büsche wuchern hüfthoch. Alle paar Monate rattert auf der meist still daliegenden Straße ein Traktor mit einem breiten Mäher heran, beißt sich in die Vegetation und hinterlässt nach ein paar großzügigen Bahnen ein struppiges Feld, ehe er weiterrumpelt.

Hunderte, Tausende solche Straßengevierte gibt es um Detroits Innenstadt herum. Hier und dort leben noch ein paar Menschen, hier und dort stehen einzelne Häuser, manche verkohlt, andere ohne Dach, doch Straße für Straße fällt die einstmals 'schönste Stadt Amerikas' an die Natur zurück. Würde die Vegetation nicht regelmäßig niedergekämpft, würde in Detroit in ein, zwei Jahrzehnten wieder Wildnis sein, über die sich ein paar altmodische Wolkenkratzer mit leeren Fensterhöhlen erheben würden wie Spukschlösser. Es bedurfte keines Vulkanausbruchs wie in Pompeji. Das Auf und Ab der Ökonomie hatte in Detroit fatalere Effekte als jedes Erdbeben.

Die eigentliche Geschichte Detroits beginnt deshalb auch nicht mit seiner Rolle als Umschlagplatz für Biberfelle, nicht mit der eleganten sternförmigen Planung der Innenstadt nach Washingtoner Vorbild, auch nicht mit der Fertigstellung des Erie-Kanals, sondern 1908, als Henry Ford die Serienproduktion des Model T aufnahm. So wie heute in Shenzen zog die explosionsartig wachsende Autoproduktion die Menschen zu Tausenden an: polnische Bauern, griechische Fischer, Baumwollpflücker aus Alabama, alle auf der Suche nach einem besseren Leben. Um 1900 hatte Detroit 285000 Einwohner, 1950 waren es siebenmal so viele.
Man lebte gut damals, selbst als Fließbandarbeiter. Nicht in tristen Mietskasernen wie in Berlin, New York oder Chicago, sondern in Einfamilienhäuschen im Grünen, die sich jenseits der kleinen Downtown und nur unterbrochen von wahllos in die Landschaft gestellten Autowerken, immer tiefer in die Maisfelder schoben. Obwohl Detroit, sieht man von den Motown-Hits in den Sechzigern ab, nur von einem einzigen Produkt lebte, wurde es Amerikas viertgrößte Stadt. Wie sonst nur Los Angeles, führte es nach dem Krieg Amerika und der Welt vor, wie Zukunft und Wohlstand aussahen. Doch das Auto, das den Höhenflug der Stadt möglich gemacht hatte, wurde ihr auch zum Verhängnis. Heute hat sich die einstige Boomtown in ein Symbol des amerikanischen Niedergangs verwandelt.

Noch bevor nämlich Zeit war, die städtische Infrastruktur auszubauen, zu diversifizieren, nachhaltiges Wachstum zu fördern, entdeckten die Autokonzerne Detroit als ihr ideales Testgelände für die totale Durchdringung der amerikanischen Gesellschaft durch das Auto. Nachdem sie Detroit schon das erste Stück asphaltierter Straße, die erste Ampel und den ersten Mittelstreifen geschenkt hatten, taten sie alles, um dort das dichteste Freeway-Netz östlich von Los Angeles durchzusetzen. Dass dort 1954 auch die erste Shopping-Mal entstand, war nur konsequent.

Die Zentrifugalkräfte, die sie damit freisetzten, ließen sich nicht kontrollieren. Die Einladung, das Zentrum Richtung Stadtrand zu verlassen, nahmen alle, die es sich leisten konnten, nur zu gerne an. Während sich so die Stadt leerte, wuchsen die Suburbs umso schneller. Und als 1967 bei Rassenunruhen Hunderte Häuser in der Innenstadt in Flammen aufgingen, nahm das Tempo der Stadtflucht nur noch zu. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Mit jeder Familie, die zusammenpackt, wird es für die Zurückgebliebenen schwerer. Jahrzehntelang redete man sich die Lage schön. Die Rettung der Stadt war angeblich immer nur einen Konjunkturzyklus entfernt. Stets fand sich jemand, der mit Detroits Wiedergeburt in die Geschichte eingehen wollte. Henry Ford II etwa, der 500 Millionen in das Renaissance Center steckte, heute die Konzernzentrale von General Motors. Seit 1977 erheben sich die verspiegelten 73 Stockwerke wie eine vertikale Fata Morgana über das Brachland. Die Renaissance hat sich nie eingestellt.

Auch für den Rest der Stadt bestand, in Detroit zumindest, immer eine vage Hoffnung. War hier nicht die Wiege des Techno? Hatte man nicht tolle Lofts? Doch der Boom der Innenstädte in den Neunzigern kam in Detroit nie an. Erst in den vergangenen Jahren begann man, sich mit dem Unausweichlichen auseinanderzusetzen: dem Schrumpfen der Stadt. Wie lange, so fragte man sich, lassen sich die verwaisten Gegenden noch halten? Wie lange will man es sich leisten, die wenigen Einsiedler, die dort noch ausharren, mit Wasser und Strom zu versorgen, ihre Kinder von Schulbussen abholen zu lassen und gelegentlich die Polizei vorbeizuschicken?

Abgesehen von städtischen 'Knotenpunkten', so ein Plan, werde man die entvölkerten Gegenden aufgeben müssen. Wo Fabrikarbeiter wohnten, könnten Parks entstehen oder Äcker. Schon heute kann man auf leeren Grundstücken Highschoollehrer beim Heuwenden sehen und Hausfrauen bei der Bienenzucht. Am Eastern Market kann man mit Gurken und Paprika für Brot und Fleisch zahlen. Doch nun planen Agro-Firmen profitorientierte 'urban farms', Bauernhöfe in der Stadt. Doch ob für den kontrollierten Rückzug die Zeit noch reicht, dürfte fraglich sein. Vielleicht ist es ja so, dass die Prärie Detroit einfach wieder schlucken wird, weil es für die Stadt keinen Existenzgrund mehr gibt.

Quelle: Süddeutsche Zeitung 20.07.13

Back