Das kopierte Wirtschaftwunder         SZ, 19.04.2012


In China erleben deutsche Familienfirmen Wachstumsraten, die sie in der Heimat vermissen. Aber es lauern Risiken

Wie sich die Geschichten ähneln. „Als ich zum ersten Mal in Shanghai war, da war der Flughafen noch winzig und mit grünem Linoleum ausgelegt“, erzählt Hans-Jochen Beilke: „Auf dem Parkplatz stand ein klappriger Ford.“ Beilke breitet die Hände aus, als würde er einen Teppich glattstreichen. Es muss in den Neunzigern gewesen sein. „Autos gab es damals kaum. Die fuhren da mit ihren Fahrrädern rum.“ Beilke ist Chef des Familienunternehmens EBM Papst. Die Firma aus Mulfingen im Hohenlohekreis ist Weltmarktführer für Ventilatoren mit 11 000 Beschäftigten und 1,4 Milliarden Euro Umsatz weltweit, produziert wird auch in China.

„Als ich vor 17 Jahren zum ersten Mal durch Pudong fuhr, da gab es jede Menge Straßen, aber keine Autos. An jeder Kreuzung wurde gehupt, damit einem bloß keiner in die Seite fährt“, erinnert sich Christoph Caselitz. Er ist Chef der auf Schaltschränke und Gehäusetechnik spezialisierten Firma Rittal aus Herborn; sie gehört zur Loh-Gruppe, auch ein Familienunternehmen, auch ein Weltmarktführer – mit 2,2 Milliarden Euro Umsatz und mehr als 11 500 Mitarbeitern. Pudong gilt heute als das Wirtschaftszentrum Shanghais. Gehupt wird noch immer, aber die Straßen sind voll mit Autos, Lastwagen, Mopeds und sehr vielen Fahrrädern.

Die Anekdoten der beiden Männer aus dem deutschen Maschinen- und Anlagenbau erzählen von atemberaubendem Wachstum, schwer zu greifen für Menschen aus ziemlich satten Industriemärkten. In China erleben sie und ihre Firmen ein Wirtschaftswunder, wie es Deutschland seit Jahrzehnten nicht hatte. Ein Wunder im Zeitraffer mit Wachstumsraten weit mehr als doppelt so hoch wie zu Hause. Es reißt mit, es gleicht Flauten aus. Das will sich keiner entgehen lassen.

„Wenn wir das Geschäft nicht machen, macht es ein anderer“, sagt Eberhard Veit, Chef des Familienunternehmens Festo aus Esslingen: 2,1 Milliarden Euro Umsatz und 15 500 Mitarbeiter. Einen Markt wie China dürfen und wollen sie sich die Weltmarktführer aus Deutschland nicht entgehen lassen. Festo, Loh, EBM Papst sind nur drei von ihnen. Sie sind alle schon dort – mit eigenen Werken und eigenem Vertrieb, sie forschen und entwickeln dort Produkte. Ohne Präsenz in China ist der Platz an der Weltspitze nicht zu halten. So fügen sich die Manager aus Deutschland ziemlich klaglos ein in die Fünf-Jahres-Pläne eines kommunistischen Staates und die fremde Kultur. Sie zeigen stolz ihre Werke. Schlaglichter einer Markteroberung:

Das Fest

Alle warten auf Eberhard Veit. Der Festo-Chef ist auf dem Weg von Esslingen nach Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong. Es ist ein trüber kalter Tag im März, der Himmel fast so grau wie der Anstrich der Werkshallen. Am Nachmittag soll Veit das neue Logistikzentrum eröffnen. Die Bühne für den Auftritt ist fertig. Auf der Rückwand sind zwei goldene Drachen aufgemalt, Symbol für Reichtum, Glück und Erfolg. Zehn goldfarben bemalte Blechkanonen säumen das Podium. Unter ihren knöchellangen feuerroten Qipaos, dem traditionellen Kleid, tragen die Hostessen T-Shirt, Jeans und kniehohe schwarze Stiefel. Veit kommt pünktlich. Er begrüßt alle einzeln, die Werksleiter, die Lokalpolitiker, ganz so wie daheim in Esslingen. „Wir freuen, uns hier bei Freunden zu sein.“

Während Veit redet schlüpfen am Rande der Bühne Männer in bunte Löwenkostüme. Veit und die anderen auf der Bühne schneiden ein rotes Band mit Pompons durch. Die Löwen tanzen. Veit und der Werksleiter malen ihre Augen an, das soll Glück bringen. Die Blechkanonen knallen, streuen Konfetti und Luftschlangen. Es ist ein Fest voller Symbole im Jahr des Drachen, ein gutes Jahr für Heirat, Geburt und Werkseröffnungen.

Die chinesische Festo-Tochter mit 1800 Beschäftigten und 200 Millionen Euro Umsatz ist die größte Auslandsgesellschaft der Deutschen. Das erste Werk hat Festo vor zwölf Jahren in China aufgemacht, in Jinqiao. 2007 folgte dann die Übernahme des ehemaligen Staatsbetriebs Jinan Pneumatic Company. „Wir exportieren ganz wenig“, sagt Landeschef Qui Hualai: „Wir produzieren in der Region für die Region.“ „Es wird auch in China Konjunkturzyklen geben“, sagt Firmenchef Veit: „Aber langfristig sehe ich nicht, dass die Limits so schnell erreicht werden.“ Ein Stück vom roten Band hat Veit eingesteckt. Solche Erinnerungsstücke der Markteroberung sammeln sie daheim in Esslingen.

Der Markt

Megatrend, Riesenmarkt. Für China scheint jedes Superlativ zu klein: 1,4 Milliarden Menschen, gut 760 Millionen Erwerbstätige, mehr als die Hälfte davon in den Städten. Das viertgrößte Land der Erde, fast zehn Millionen Quadratkilometer Fläche. 2010 lag die Wirtschaftsleistung laut Weltbank bei knapp sechs Billionen Dollar. Zum Vergleich: Deutschland mit seinen gut 80 Millionen Menschen schaffte ein Bruttoinlandsprodukt von 3,3 Billionen Dollar. Schon diese Relationen zeigen, wie viel Potential der chinesische Markt noch bietet. Zwar lässt das Wachstum nach, aber die Raten sind immer noch hoch. 2010 wuchs die chinesische Wirtschaft um 10,4 Prozent, im vergangenen Jahr immer noch um 9,2 Prozent. Für dieses Jahr hat die Regierung zwar die Prognose auf 7,5 Prozent gesenkt. Es ist aber nur noch eine Sache von Jahren, bis China die USA als größte Wirtschaftsmacht ablösen wird.

Deutschland zählt zu den wichtigsten Handelspartnern. „Jede fünfte nach China importierte Maschine kommt aus Deutschland“, sagt Stephanie Heydolph, Statthalterin des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) in Shanghai. Zwischen 500 bis 550 der rund 3000 Mitglieder seien bereits in China vertreten. „Es gibt noch sehr großes Potential“, sagt Heydolph: „Aber man sollte sich gut überlegen, was man in China produziert. Ist es leicht zu kopieren?“ Nur eine von vielen Fragen.

„Für uns ist China schon längst kein Billigstandort mehr“, sagt Rittal-Chef Caselitz. Mit einem Volumen von 875 Milliarden Euro ist China schon heute der größte Elektromarkt der Welt, geht aus Statistiken des Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektronikindustrie in Berlin hervor. „Die Chinesen haben keine Nischenmärkte“, sagt EBM-Chef Beilke: „Die Märkte sind riesig für alles. China ist ein Koloss. Diesen Markt darf man einfach nicht vernachlässigen. “

„Es ist besser, selbst in die Höhle des Löwen zu gehen, anstatt zu warten, bis die chinesische Konkurrenz irgendwann in der eigenen Höhle auftaucht“, mahnte Thomas Lindner, VDMA-Präsident und Chef der auf Nadeln und Präzisionsteile spezialisierten Albstädter Firma Groz-Beckert, beim diesjährigen Außenwirtschaftstag des Verbandes in Offenbach. Dabei ist die heimische Höhle längst nicht mehr sicher. Im Januar übernahm der chinesische Konzern Sany Heavy Industry die Firma Putzmeister, beide stellen Baumaschinen her. Im März ging Kiekert, Weltmarktführer für Türschlösser, an den chinesischen Autozulieferer Hebei Lingyun Industrial. Nun schickt sich der chinesische Marktführer XCMG an, den Betonpumpenspezialisten Schwing zu übernehmen. Internationalisierung ist keine Einbahnstraße.

Geographie-Stunde

Wie sich die Landkarten ähneln. Es war eine vorsichtige Annäherung an ein fremdes Land, so wie bei Rittal. Erst war es ein Büro im German Center in Shanghai, das war 1996. Dann ein Jahr später eine Tochtergesellschaft in der Freihandelszone Waigaoqiao, nordöstlich von Shanghai. 2000 die erste Produktion mit einem örtlichen Lieferanten in Baoshan, 2004 dann der Produktionsstart im neuen Werk im Industriegebiet Songjiang. Schaltschränke werden überall im Land gebraucht, in jedem Rechenzentrum. „So eine Windkraftanlage steckt voller Schaltschränke – von der Gondel bis zum Fuß“, sagt Rittal-Chef Caselitz. 1200 Menschen beschäftigt Rittal in China.

Die Investoren ziehen weiter ins Landesinnere, manche langsamer, manche schneller, manche eilen ihren Kunden voraus zu neuen Standorten. Phoenix Contact landete in Nanjing. Das Unternehmen aus Blomberg stellt Verbindungstechnik her, vereinfacht ausgedrückt Stecker und Klemmen. 1,5 Milliarden Euro, 12 500 Mitarbeiter weltweit – noch so ein Weltmarktführer. Im Nanjing Automation Research Institute, es gehörte zum Energieministerium, fanden die Westfalen 1993 den richtigen Partner. Vielleicht haben Name und Herkunft auch geholfen. In der chinesischen Mythologie steht der Vogel Phoenix für Glück, eine göttliche Kreatur wie der Drache.

„Kennen Sie John Rabe“, haben die chinesischen Gastgeber Phoenix-Geschäftsführer Frank Stührenberg bei seinem ersten Besuch gefragt. Damals musste er verneinen. Heute erzählt Stührenberg die Geschichte selbst. In Nanjing gilt Rabe als der gute Deutsche, weil der damalige Siemens-Manager im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende Chinesen vor japanischen Soldaten geschützt hat.

„Wir wollten von Anfang an eine Firma mit chinesischem Antlitz sein“, sagt er. Der Manager steht im Vortragssaal des Werkes in Nanjing. Das Werk könnte genau so in Blomberg stehen oder sonstwo, ähnlich sieht es auch im amerikanischen Harrisburg aus. „Wir pflegen weltweit eine einheitliche Architektur. Das ist eine Botschaft“, sagt Stührenberg. Auf dem Weg in die Fabrik macht er gerne einen kleinen Schlenker. Auf einem künstlichen Hügel steht eine rote Installation, ein Phoenix. Es ist ein sonniger Tag, über dem Platz segeln Papierdrachen. „Die hat die Stadt für uns gemacht“, erzählt Stührenberg: „Ein beliebtes Ausflugsziel. Da wird auch gerne geheiratet.“

In den Chroniken der Unternehmen spiegelt sich der wirtschaftliche und politische Wandel Chinas von einem Entwicklungsland zu einer Wirtschaftsmacht. Er setzte mit den Reformen Deng Xiaopings Ende der 70er Jahre ein und beschleunigte sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989. In den Neunzigern, nach dem abrupten Ende des Wiedervereinigungsbooms in Deutschland, wuchs der Druck auf die Firmen, sich neue Märkte zu erschließen. An Tortendiagrammen und Umsatzkurven lässt sich ablesen, wie sich die Gewichte in der Welt verschieben. Die Erlöse sind insgesamt gestiegen, aber Anfang des Jahrtausends steuerten die USA noch 16 Prozent zum Umsatz von EBM Papst bei, mittlerweile liegt der Anteil bei zehn Prozent. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich der Beitrag Chinas auf zehn Prozent.

Die Produkte

Früher hat EBM-Chef Beilke für Trumpf gearbeitet. Aus dieser Zeit stammt seine Geschichte: „Vor sieben Jahren wollten wir hier einen OP-Tisch verkaufen. Er ließ sich hochpumpen wie ein Frisörstuhl.“ Die Stühle seien unverkäuflich gewesen. „Mit Dingen von gestern geht es hier nicht“, sagt Beilke: „Die Chinesen wollen das Neueste.“ Einfach und preiswert darf es gerne sein.

EBM Papst baut gerade in Shanghai ein Entwicklungszentrum auf. „Der Strömungskanal wird die gleichen Ausmaße haben wie in Mulfingen“, sagt Landeschef Helmut Schoeneberger stolz. Wie eine Kostbarkeit hält er einen schwarzen Lüfter in den Händen, so groß wie ein Bierdeckel. Das Gerät sei in China für China entwickelt worden und koste halb so viel wie in Deutschland, erzählt der Manager: „Ein deutscher Ingenieur würde so einen Lüfter nie als Technologieprodukt ansehen. Die Deutschen fragen zu selten den Kunden. Dieser Lüfter muss keine 20 Jahre halten.“ Der Chinese kaufe das billigste Produkt, wohlwissend, dass er es in drei bis fünf Jahren wegwerfe.

Die Mitarbeiter

Wie sich die Klagen ähneln. Die Löhne steigen. China ist dabei, eine flächendeckende Sozialversicherung aufzubauen. Fast alle Provinzen Chinas setzen Mindestlöhne fest, die sukzessive angehoben werden. 100 Euro in etwa verdient eine ungelernte Kraft im Monat, 300, 400, 500 Euro eine Fachkraft, in den Ballungszentren mehr, auf dem Land weniger. Die Firmen zahlen Boni, weil die Fluktuation hoch ist, ganz anders als zu Hause. Die Lohnangaben der Manager schwanken. EBM-Mann Helmut Schoeneberger sieht es gelassen: „Wenn man mit und in China wachsen will, trifft es alle. China als verlängerte Werkbank, das geht nicht mehr.“ Noch ist der Unterschied erheblich. Nach einer Studie des IW Köln kostete 2010 in China eine Arbeitsstunde im verarbeitenden Gewerbe 2,69 Euro, in Deutschland 34,47 Euro. „Wir sind längst nicht mehr hier, weil die Lohnkosten niedrig sind“, versichert dennoch Phoenix-Geschäftsführer Stührenberg.

Es fehlen Fachkräfte. Auch das ist sehr deutsch. Ein Ingenieur in China wechsle alle drei Jahre den Arbeitgeber, sagt EBM-Mann Schoeneberger. „Es gibt einen Kampf um gelernte Arbeiter“, sagt auch Zheng Qinghao, Präsident von Rittal China. Ein Arbeiter, der eine Maschine von Trumpf bedienen kann, sei gefragt. Ein guter Schweißer könne mehr verdienen als ein Hochschulabsolvent. „Schon jetzt spüren mehr als 90 Prozent der Unternehmen massive Engpässe bei der Rekrutierung von Mitarbeitern“, behauptet Festo-Chef Veit. Lange bevor seine Firma in China produzierte, lieferte sie Bildung – Schulungen, Trainingszentren für Industrie und Universitäten. Seit Mitte der 80er Jahre kooperiert Festo mit dem chinesisch-deutschen Hochschul-Kolleg an der Tongji-Universität in Shanghai, eine Art Fachhochschule nach deutschem Vorbild. Die Firma finanziert einen Lehrstuhl, so wie Haniel, Schaeffler, Metro und viele andere deutsche Firmen.

„Es gibt in China viele Hochschulabsolventen, aber die entsprechen nicht deutschen Erwartungen“, sagt Projektkoordinator Hans W. Orth, früher Rektor der Fachhochschule Lübeck. Es mangle an Praxis. Die Deutschen seien eher Problemlöser. „Die Chinesen können besser reproduzieren“, sagt Orth, das entspreche der konfuzianischen Philosophie: „Ahme deinen Lehrer nach, bis du so toll bist wie er.“ 200 Studenten nimmt das Kolleg jährlich auf. „Die deutsche Technik ist der Magnet“, sagt Orth.

Stefan Meining arbeitet seit Herbst 2011 in China, als Ausbilder bei Festo. Er baut in Jinan gerade eine Lehrwerkstatt auf und berichtet darüber in einem Internet-Blog. Im Betrieb erlernen die jungen Chinesen die Praxis, an einer örtlichen Schule die Theorie – eine duale Ausbildung wie zu Hause. Wissen und Bildung – vielleicht das wertvollste Exportgut.                                

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